NEUES aus der LEBENSHILFE. Gemeinsam was besonderes - Geschwisterkind mit Behinderung
Heute geht es wieder um Geschwister.
Heute erzählt eine Mutter.
Wie es ist wenn ein Kind behindert ist.
Was ihr hilft.
Was ihr Sorgen macht.
Für unsere 1. Ausgabe 2020 "NEUES aus der LEBENSHILFE WETTERAU" haben wir das Geschwisterthema als Schwerpunkt gewählt. Wir haben Geschwisterkinder und auch Eltern gebeten uns davon zu erzählen. Diese ganz besondere Reihe werden wir jetzt nach und nach veröffentlichen. Wenn Ihnen die Beiträge gefallen oder Sie etwas dazu schreiben möchten, nehmen Sie gerne mit uns Kontakt auf:
carmen.bleck@lebenshilfe-wetterau.de
Dieser Bericht wird unterstützt durch die Anzeige der Firma Georg Mayer Baudekoration GmbH.
Die Anzeigenpartner von "NEUES aus der LEBENSHILFE WETTERAU" unterstützen uns auch bei dieser Online-Variante. DANKE dafür.
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Bericht einer Mutter- alles normal und doch nichts normal
Und doch ist etwas anders.
Ein oder auch mehrere Kinder in dieser Familie beanspruchen besonders viel Aufmerksamkeit, Betreuung, Pflege, sind viel im Krankenhaus – oft mit einem Elternteil. Manchmal wochen- oder monatelang. Es stehen viele Arzttermine an. Auch Facharzttermine irgendwo. Pflegedienste, Therapeuten oder Frühförderer oder Rehatechniker/ Orthopädiemechaniker kommen ins Haus oder die Familie verbringt viele Stunden mit warten bei der Krankengymnastik, Logophädie, Heilpraktikern, … irgendwelchen Fachleuten halt.
Es gibt anstrengende – häufig wiederkehrende - Behandlungsrunden im Krankenhaus, bei denen die Eltern oder weitere „große“ Familienmitglieder mit rotgeweinten Augen, traurig, gerizt und doch positiv redend wieder nach Hause kommen. Bei manchen Familien ist auch der wiederholte Einsatz des Notarztes fast schon Alltag. Die Wohnungen werden manchmal besonders eingerichtet, Pflegebetten, halbe Krankenhauseinrichtungen aber z.B. auch nur das Entfernen von Fenstergriffen als Rausfallprophylaxe und jegliche Art von Sicherung, um zu verhindern das ein besonders Geschwisterkind sich selbst verletzt oder aufgrund seiner besonderen oder mangelnden Fähigkeiten oder seines Verständnisses sich in gefährliche Situationen bringt, oder einfach allein –orientierungslos - auf die Straße geht.
Und bei all dieser Normalität in ihrer Familie werden Geschwisterkinder groß. Denn es ist alles normal und doch ist nichts normal.
Da gibt es Blicke und Fragen von Kindergartenkindern und Klassenkammeraden/Innen und deren Eltern und wildfremden Menschen. Auch unschöne Bemerkungen von großen und kleinen Personen. Aber auch viele interessierte Fragen. Und nochmal Nachfragen. Diese haben mich als Mama meist gefreut. Den anderen Müttern und Vätern war das öfter mal peinlich – schade auch. Meine gesunden Kinder hat es manchmal genervt; es war lästig, viele fragen nur nach dem Gesundheitszustand des Geschwisterkindes und selten nach Ihnen. Manchmal haben meine Kinder Fragen mit viel Fachwissen erklären können und wollen. Manchmal nicht, dann waren sie traurig, überfordert, sauer, genervt.
Unser behindertes Kind hat irgendwann nur noch sehr wenig bis gar nichts gegessen und getrunken und hat dann mit einer Operation eine PEG (Button/Ernährungssonde – „Stöpsel“ in die Bauchdecke – führt zum Magen) bekommen. Seitdem geben (Fachterminus sondieren) wir einen Großteil der benötigten täglichen Trinkmenge mit Hilfe einer „großen 100 ml Spritze“ über einen abnehmbaren Schlauch durch die PEG in den Bauch. Das ist unser Trinken. Deswegen haben wir fast immer eine Thermosflasche mit warmen Wasser dabei. Wir sondieren warmes Wasser in der Öffentlichkeit. Da gibt es natürlich immer Zuschauer. Jedenfalls kann man familienfremden oder Freundeskindern alles - einfach, kindgerecht aber ehrlich erklären – und dann ist gut. Dann ist das einfach so. Fertig. Oft erklären die neugierigen und interessierten Kindern in Ihrem Umfeld später genau was sie über die Behinderung oder sonstige Beeinträchtigungen und Sondieren gelernt haben.
Für meine anderen Kinder war das schon immer so. Ich glaube aber nicht, dass es immer einfach war oder ist. Wochenlang ist ein Elternteil weg. Jedes Wochenende Besuche im Krankenhaus mit Arztgesprächen und dann warten auf dem Flur, weil wegen Infektionsgefahr Kleinkinder nicht auf die Station dürfen (Wir haben dann immer versucht aus dem restlichen Tag einen Ausflug zu machen). Viel Rücksicht nehmen. Keine Planungen. Kein Urlaub buchen – da wir eh immer wieder im Krankenhaus gelandet sind. Viele Absagen von Verabredungen.
Und es gibt noch vieles anderes. Was uns von manch anderen Familien unterscheidet oder eben nicht unterscheidet.
Wir waren als ganze Familie gemeinsam in Vater-Mutter-Kinder-Kur.
Wir waren auf vielen Familienfesten nicht oder nur als Teilfamilie.
Wir werden immer angestarrt. Immer. Mal mehr oder weniger.
Wir halten schon mal den Zug auf, weil der Rolli nicht durch die Tür geht und der Rest der Familie schon drinsitzt. Wie gut das es freundliche Menschen gibt die uns dann in das Gepäckabteil geholfen haben.
Wir – einer von uns – ist echt laut richtig laut und manchmal nicht zu beruhigen und dann gehen wir (alle oder als Teilfamilie) aus Veranstaltungen raus.
Wir haben viele nette Menschen kennengelernt. Tolle Begegnungen. Freundschaften. Menschen, denen man nix mehr erklären muss. Die aber nachfragen und denen es nicht peinlich ist. Gemeinsame Unternehmungen. Rücksicht. Verständnis. Normalität.
Es lebe die Selbsthilfegruppe, wo man immer einen oder eine anrufen oder treffen kann. Um sich auszuheulen und gemeinsam zu lachen und dann gestärkt einen gepfefferten Brief an z.B. die Krankenkasse oder eine Behörde schreibt. Oder das Ärgernis dann einfach in den Mülleimer werfen kann. Und aufatmet.
Viele Familien sind stark belastet. Fremde Menschen sind oft stark in die Familie eingebunden. Nicht alle „Freunde und Verwandte“ können ein behindertes Kind begrüßen, anfassen oder damit spielen. Der Freundeskreis sortiert sich, d.h. einige brechen den Kontakt ab bzw. aufgrund der fehlenden Zeit sich weiter zu treffen geht viel verloren. Soziale Kontakte verschieben sich Richtung Behinderung. Familien zerbrechen.
All das müssen alle Familienmitglieder verarbeiten.
Jeder auf seine Weise.
Treffen mit Menschen denen es ähnlich geht sind für uns ganz wichtig. Das Frauen und Männer unterschiedlich in der Kommunikation sind und unterschiedlichen Redebedarf haben ist auch schon allgemein bekannt.
Kinder und besonders Geschwisterkinder von besonderen Kindern haben das auch. Jeder sehr unterschiedlich.
Meine Kinder haben früh – zu früh – lernen müssen sich selbst zu beschäftigen oder Aufmerksamkeit von anderen einzufordern, weil Mama und Papa mit dem behinderten Kind beschäftigt waren. Und sie schon wieder mal warten mussten.
Daher bin ich sehr froh, dass es besondere Zeiten für meine gesunden Kinder gibt.
Freizeiten, regelmäßige Treffen, Selbsthilfegruppe mit Familienzeiten und Zeiten für Erwachsene, Familienfreizeiten mit Aktionen für die Kinder, Begleitkinder bei der Vater-Mutter-Kind Kur.
Bei einer sehr beliebte Geschwisterfreizeit gibt es die Regel das keine Handys oder sonstigen elektronischen Spielzeuge mitgenommen werden dürfen. (Es gibt ein Betreuerhandy für Anrufe und manchmal Bilder für die Eltern) Und alle Kinder sind bereit während der Geschwisterferienfreizeit für zwei Wochen auf das Handy zu verzichten, einfach so. Jede Familie mit Kindern und Teenagern weiß welche Dramen sich um den Verzicht der elektronischen Medien abspielen. Ein freiwilliger Verzicht verdeutlicht ganz klar den Stellenwert dieser Freizeit für die Kinder.
Meinen Kindern sind diese Kontakte sehr wichtig geworden. Neue Medien machen Kontakte auch über weite Entfernungen möglich, z.B. als regelmäßige Gruppentelefonate. Es gibt inzwischen auch private Treffen der Geschwisterkinder einzeln oder als Kleingruppe für verlängerte Wochenenden bei und mit anderen Geschwisterkindern zu Hause.
Die Kinder und Jugendlichen reden anders miteinander.
Auch über Ihre Sorgen und Ängste mit denen Sie Ihre Eltern nicht belasten wollen. Hier- bei den extra Zeiten für Geschwisterkinder - ist ein Ventil. Es ist eine ganz normale Freizeit oder ein Gruppentreffen. Und doch anders. Ja, im Extremfall kann man schon mal damit angeben welches Geschwisterkind behinderter ist. Es sind auch Gespräche über Tod. Weil den einige schon hautnah erlebt haben. Über Verluste. Über „Schon wieder ist alles anders wegen ….!“ Und „Immer darf/kann ich nicht, weil mein kranker Bruder/Schwester schon wieder mal….“ Hier können Sie Gefühle und Gedanken äußern und versuchen einzuordnen. Hier erleben sie dass es anderen Kindern genauso geht. Und verbringen eine gute Zeit miteinander. Hier sind sie einfach Kind oder Jugendliche.
Jede Familie hat ihre eigenen Aufgaben und versucht für jedes Kind gute Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen. Dafür brauchen wir – wie viele andere Familien - manchmal mehr oder weniger Unterstützung. Für Freiräume.